Der Prozess am 19.09.2023 wird wegen einer Sachbeschädigung im Mai 2021 gegen das Büro der Bild-Redaktion in Leipzig vor dem Amtsgericht Leipzig verhandelt. Im damals veröffentlichten Bekenner:innenschreiben (https://de.indymedia.org/node/148080) wird insbesondere „Sexismus und Sensationsgeilheit“ in der Berichterstattung der Bild-Zeitung beim Antifa-Ost-Prozess kritisiert.
Das einzige Indiz, eine minimale DNA-Spur an einem Pflasterstein, reicht dem Richter schlussendlich nicht aus und es kommt zum Freispruch.
Vor Prozessbeginn werden, die Besucher:innen durchsucht und ihre Ausweise kopiert. Gegenstände wie Telefone, Essen und Trinkflaschen dürfen nicht in den Saal hineingenommen werden. Der Sitzungssaal ist bis auf den letzten Platz mit solidarischen Zuschauer:innen gefüllt.
Die Staatsanwaltschaft vertreten durch Oberstaatsanwalt Schulz verliest den Strafbefehl. Mittels Pflastersteinen sei durch die Angeklagte und mindestens eine weitere Person beim Büro der Bild-Zeitung am Floßplatz in Leipzig ein Sachschaden in Höhe von knapp 600€ angerichtet worden. Motiv sei eine „ablehnende Haltung“ gegenüber dieser Zeitung gewesen.
Im Anschluss wird durch die Angeklagte eine politische Erklärung verlesen:
„In meiner Erklärung werde ich nicht darauf eingehen, was mir vorgeworfen wird. Sollten Parallelen gezogen werden, so sind sie konstruiert.
Knallige, riesige Überschriften und überzogene Schlagzeilen. Dafür und für unrealistische Darstellungen sowie zweifelhafte Inhalte sind die Springer-Presse bekannt. Das heißt auch, dass diese Presse Geld auf Kosten anderer macht und das alles auf eine Art und Weise, die schlimmer kaum geht. Es werden Geschichten ausgeschmückt, Lügen fröhlich in die Welt posaunt und Sexismus verkauft sich ja auch immer noch ganz wunderbar. So beispielsweise auch im Fall von Lina E. Als wäre das noch nicht genug, ist bereits seit längerem bekannt, dass die Bild eng mit der Polizei zusammenarbeitet, wie das letzte Beispiel von Karl K. zeigt. Gute Pressearbeit sieht nunmal anders aus.
Für die mir vorgeworfene Sachbeschädigung ist die Beweislage sehr dünn. Hauptbeweismittel scheint eine DNA-Spur an einem Stein aus Leipzig sein. Vielleicht aber auch irgendein Stein von irgendwo her. So sicher ist man sich ja dann doch nicht mehr. Keine Person weiß, wo dieser Stein herkommt. Zum Bereich des Floßplatzes gehört der Stein anscheinend nicht. Was anderes ist nicht auffindbar. Da ist der nächste Schritt doch klar! Er lautet Hausdurchsuchung. Ich wohnte schließlich in Connewitz – was sonst machen denn Menschen im sogenannten linken Stadtviertel die ganze Zeit? Denn im Zuge der Ermittlungen sind Beamt:innen am frühen Morgen des 26. Januar 2022 in mein Zuhause eingedrungen. Haben unsere Wohnung auf den Kopf gestellt. Haben etliche Sachen mitgenommen, die ich bis jetzt noch nicht wieder habe. Ermittlungen dauern schließlich. Aber Eilverfahren für Silvesternächte sind dann wieder machbar oder wie?
Wenn es um die Datensammelwut der Polizei geht, wird deutlich, dass diese sehr groß ist. Der Überwachungsstaat baut sich Stück für Stück weiter aus. Was vor ein paar Jahren noch unvorstellbar schien, ist jetzt mit total überwachten Innenstädten, Gesichtserkennung und weiteren Methoden Wirklichkeit geworden. Auch der Austausch über die Staatsgrenzen hinaus wird immer mehr und schneller.
Sodann muss aber das Erklären von DNA Spuren als einziger und eindeutigen Beweis in Frage gestellt werden. Denn wenn die Spurensicherung kommt, so wird alles, was irgendwie greifbar und nicht niet- und nagelfest ist, aufgesammelt und mitgenommen. Jedoch lässt das Vorfinden von bestimmten DNA-Spuren an einem Ort immerhin auch nur den Rückschluss darauf zu, dass die DNA einer bestimmten Person auf die eine oder andere Weise zu dem einen oder anderen Zeitpunkt dorthin gelangt ist (1). Auch im aktuellen Verfahren um die Tag X Demonstration und den Kessel am 03. Juni war die Spusi nach dem Geschehen da. Aber nicht etwa nur nach Beendigung der Maßnahmen. Zwei Wochen später sind sie auch nochmal angerückt. Um was denn bitte zu finden?
DNA wird heute für fast alles abgenommen. Alles nur, damit die Sicherheitsbehörden unsere Identität auf Vorrat speichern können und zwar in Massen…“
Das Publikum beantwortet die Erklärung mit Applaus.
Befragung der Zeuginnen
In der folgenden Beweisaufnahme werden zwei Zeuginnen gehört und ein DNA-Gutachten in den Prozess eingeführt. Zentral sind zwei Pflastersteine, mit welchen die Fensterscheiben beschädigt worden seien.
Die erste Zeugin S. (Redaktionsassistenz Bild) gibt an, Beschädigungen an den Fensterscheiben bemerkt zu haben, die „zu einer großen Wahrscheinlichkeit“ am Vortag noch nicht dort gewesen seien. Kurz verdächtigte sie die Platanen an der Straße, doch dann habe sie aus dem Fenster „zwei oder drei Pflastersteine“, die vor dem Gebäude lagen, erspäht. Sie rief die Polizei, die mit der Spurensicherung anrückte.
Durch Rückfragen der Staatsanwaltschaft wurde die Zeit („nach dem Mittagessen“), die Art der Steine („ganz klassische kleine Steine – Quader“) und die Auffindesituation näher spezifiziert. Die Steine wären direkt am Gebäudesockel und bei den parkenden Autos auf dem Gehweg gewesen. Auch auf Wunsch des Staatsanwaltes wurden die Beschädigungen der „angestoßenen“ Fenster en détail beschrieben als „Abplatzwunde“ an der äußeren Seite der Doppelverglasung, jedenfalls jedoch ohne Sprung.
Außerdem habe sie durch eine Online-Redakteurin erfahren, „dass es ein Bekennerschreiben bei den Linken gab“, welches sie jedoch „nicht geprüft“ habe.
Anschließend wurden ihr auf Wunsch von Rechtsanwältin Belter Lichtbilder vorgelegt, die u.a. das Gebäude zeigen. Auf Nachfrage benennt sie Zimmer (Redaktionsleitung, Raucherraum, Archiv…), gibt an, dass die Steine auf den Fotos so lägen, wie sie sie aufgefunden habe und bestätigt, dass es am Floßplatz zu der Zeit eine Baustelle gab.
Die zweite Zeugin Anett G. (48) ist Polizeibeamtin und ladbar über das Revier in der Geithainer Str. 85. Sie sei damals für die Spurensicherung zuständig gewesen. Typisch für Polizeibeamt:innen hat Frau G. keinerlei konkrete Erinnerungen. Sie war da, das wisse sie sicher. Für den Rest müsse sie leider auf ihr Protokoll verweisen. Dort steht, dass sie zwei Steine gesichert und Fotos gemacht habe.
Außerdem konnte sie noch berichten, wie sie im Normalfall – d.h. laut Lehrbuch – Spuren sichert: Mit frischen (!) Gummihandschuhen werden die Objekte einzeln in DNA-freie, atmungsaktive Tüten getan. Die Handschuhe werden nicht pro Objekt gewechselt. Es wird eine transparente Folie auf die Scheibe geklebt, abgezogen, mit Schutzfolie versehen und dann in einer Tüte gesichert. Ihr Beweggrund scheint zu sein, so wenig wie nötig und total allgemein zu sprechen, damit ihr möglichst kein Fehler im konkreten Fall nachgewiesen werden kann.
Auf die Rückfragen der Anwältin antwortet sie, dass es kein Foto gibt auf dem die beschädigte Scheibe und der zugeordnete Stein gleichzeitig zu sehen sind. Welche Scheibe angegriffen wurde, wisse sie nicht mehr.
Auf Nachfragen der Staatsanwaltschaft antwortet sie, dass Protokolle an das Kommissariat 41 (dort ist u.a. die Kriminaltechnik) gesendet wurden. Eigene Auswertungen habe sie nicht durchgeführt, Dies mache das genannte Kommissariat bzw. das LKA. Wetterauffälligkeiten hätte es nicht gegeben und sie habe die Spuren alleine gesichert. Ob ein anderer Kollege z.B. Zeug:innen vernommen hatte wisse sie nicht mehr.
Die zur Sicherung der Steine genutzten Debabreathe-Tüten seien ganz toll, nämlich DNA-frei und atmungsaktiv und geeignet für Komplexspuren (hier potentiell: DNA, Fingerabdrücke und Glaspartikel).
Erklärungen und Anträge
Teil der Beweisaufnahme waren auch diverse Erklärungen der Anwältin:
Zunächst ging es um den gesicherten Stein, der direkt am Haussockel, jedoch neben und nicht unter dem beschädigten Fenster gefunden wurde. Damit steht die Deutung der Staatsanwaltschaft im Widerspruch zu physikalischen Gesetzen.
Im Folgenden wurde der Einführung und Verwertung von DNA der Beschuldigten widersprochen. Die verwendete DNA ist im Zusammenhang eines anderen Tatkomplexes und Ermittlungsverfahren entnommen worden und,darf nur in diesem Verfahren genutzt werden. Bereits die Entnahme war rechtswidrig, da es keine richterliche Anordnung und kein Einverständnis gab.
Auch die Einstellung in die DNA-Analysedatei war rechtswidrig. Dies schreibt bereits das LKA Sachsen wonach die „Einstellung [in diese Datei] nicht möglich“ sei.
Es gilt daher ein umfassendes Beweismittelverwertungsverbot. Außerdem stellt Rechtsanwältin Belter fest, dass „Grundrechte planmäßig außer Acht gelassen wurden“, sowie „die Grundrechte der Betroffenen auf informationelle Selbstbestimmung ausgehebelt“ wurden.
Der Staatsanwalt erklärt in „einer vorläufigen Stellungnahme“, dass es im damaligen Verfahren bei der Speichelprobe zu einem Spur-Spur-Treffer gekommen sei. Daher sei schon alles richtig so.
Des Weiteren werden Widersprüche gegen die Einführung eines Behördengutachtens des LKA Sachsen eingelegt.
Bei sehr geringen DNA-Spuren „an der Nachweisgrenze“, wie hier laut Gutachten der Fall, besteht die Gefahr der Überinterpretation. Unklar sind z.B. der Zeitpunkt, Art und Weise der Übertragung der DNA.
Die Verteidigerin untermauert ihre Argumente mit Zitaten aus einem Bericht der Deutschen Spurenkommission, in dem es unter anderem heißt, dass besondere Vorsicht geboten ist, wenn eine DNA-Spur das einzige Indiz – wie hier der Fall- ist. Alternativen der Spurentstehung sind in Betracht zu ziehen.
Der Staatsanwalt nimmt das Gesagte zur Kenntnis. Zunächst fällt ihm ein, dass der Gutachter Lippold schriebe, dass die Spur mit einer scheinbar geringen Unsicherheit von 1 zu 30 Mrd. der Beschuldigten zuzuordnen sei.
Die Verteidigerin Belter weist nochmal, auf die sehr geringe Menge der DNA hin und verbildlicht, dass es ausreicht, wenn jemand „irgendwo eine Körperzelle verloren“ oder „auf die Straße gespuckt“ habe, um ins Visier der Behörden zu geraten.
Der Staatsanwalt fährt fort, dass es keine Aussage der Beschuldigten gebe, was ihr zwar nicht zum Nachteil ausgelegt werden dürfe, allerdings seien auch keine anderen Szenarien, wie die DNA dort hingekommen sein könnte, genannt worden. Die Möglichkeit, dass die Beschuldigte irgendwo auf die Straße gespuckt habe, genügt ihm nicht, und somit sei der Widerspruch abzulehnen.
Außerdem führt er an, dass der Aufruf zur Prozessbegleitung der „Roten Hilfe Leipzig e.V.“ mit dem Bekenner:innenschreiben verknüpft sei, dies sei ein Indiz.
Rechtsanwältin Belter widerspricht diesem Argument von „Sippenhaft“ vehement.
Sollte das DNA-Gutachten in den Prozess eingeführt werden, wird von ihr angefordert einen physikalischen Sachverständiger (für die Flugbahn der Pflastersteine) hinzu zu ziehen, sowie zusätzliche Auswertungen bzgl. der DNA vornehmen zu lassen.
Der Richter nimmt die Anträge zur Kenntnis.
Nach einer kurzen Pause wird der Strafantrag mit dem Vermerk der Verteidigung, dass die unterzeichnenden Personen formal nicht dafür berechtigt gewesen sind, verlesen. Laut Richter könne später ggf. von einer Beweiswürdigung Abstand genommen werden.
Die Beweisaufnahme wird geschlossen nachdem der Staatsanwalt noch darauf besteht den Aufruf der Roten Hilfe zur Prozessbegleitung, mit Bezug zum Bekenner:innenschreiben, zur Akte zu nehmen. Rechtsanwältin Belter stellt den Sachbezug in Frage und gibt an, den Aufruf nicht zu kennen. Dies wiederum will der Staatsanwalt nicht glauben und – schlimm! – hebt noch hervor, dass die Angeklagte dort als ‚Genossin‘ bezeichnet wurde.
An die Beweisaufnahme anschließend werden die persönlichen Verhältnisse der Angeklagten, d.h. Ausbildung, Zukunftspläne und finanzielle Situation, erfragt.
Plädoyers
In seinem Plädoyer ist sich der Staatsanwalt sicher: Die Angeklagte habe mit mindestens einer anderen Person das Redaktionsbüro angegriffen. Aus seiner Sicht sei der Beweis geführt, da unmittelbar vor dem Gebäude zwei Steine liegen, an einem Stein seien DNA-Merkmale der Beschuldigten gesichert. Damit sei „die Urheberschaft eindeutig geklärt“. Die Beschuldigte hätte den Stein in der Hand gehabt und geworfen.
Die Gründe für den „Leser:innenbrief der anderen Sorte“, seien unbekannt, aber aus dem Bekennerschreiben gehe ein Bezug zu dem Verfahren gegen Lina E. hervor. Dieses sei vor der öffentlichen Kenntnisnahme veröffentlicht worden.
Vernünftige Zweifel gebe es seitens der Staatsanwaltschaft nicht, daher bliebe er bei seiner Forderung einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen. Die Höhe solle mit 20€ bemessen sein, da er daran zweifelt, dass das genannte Einkommen der Beschuldigten in Leipzig ausreichend zum Leben sei. Es müsse daher noch anderes Einkommen geben.
Die Verteidigung nimmt in ihrem Plädoyer Bezug auf den Anschlag auf die Wohnung von Gemkow. Zwei Neonazis hatten die Privatwohnung des ehemaligen Justizministers von Sachsen mit Buttersäure angegriffen. Die DNA Spuren am Stein reichten damals nicht zur Verurteilung aus.
Des weiteren werden „Tatmittel herbeigestrickt“. Der Fundort des Steines weise daraufhin, dass dieser auch aus physikalischer Sicht nicht Tatmittel sein kann.
Die Staatsanwaltschaft fordert zudem Sippenhaft. Sie fordert einen Freispruch!
Im Falle einer Verurteilung beantragt sie die Spuren nochmals zu untersuchen und den Gutachter Lippold des LKA als Zeugen zu laden.
Erklärung der Beschuldigten:
Kurz vor Schluss wird eine weitere kurze Erklärung der Beschuldigten verlesen:
„Ich bin ratlos. Ratlos darüber, warum Beamt:innen vor über einem Jahr bei mir zu Hause waren. Ratlos, warum sie überhaupt bei Leuten früh um sechs vor der Tür stehen. Ratlos, warum mir DNA entnommen wurde. Die Datensammelwut der Cops ist auch nichts neues…Es ist einfach wirklich ätzend.
Ich denke, dass etwas bestimmtes mit der Hausdurchsuchung und allem darum erreicht werden wollte: Einschüchterung und Abschreckung. Der Staat und seine Akteur:innen, wie die Soko Linx, versuchen sich Stärke, die sie verlieren, wieder zu erlangen. Ich bin froh sagen zu können, dass sie mich damit nicht klein bekommen. Trotz alledem bleibe ich und bleiben wir widerständig. Getroffen hat es mich, gemeint sind wir alle.“
Es folgt Applaus von den Besucher:innen.
Urteil
Nach kurzer Bedenkzeit spricht der Richter die Beschuldigte frei und fordert sich dabei selbst Applaus von den Beobachter:innen ein. Er habe erhebliche Zweifel an der Urheberschaft. Der eine Stein habe Glasanhaftungen und der andere Stein Anhaftungen von DNA Spuren dicht an der Nachweisgrenze.
Das Bekenner:innenschreiben spricht dafür, dass die Tat aus der linken Szene käme, die Beschuldigte sei dieser Szene vielleicht auch zuzuordnen. Dies sei aber kein Beweis.
Auch der Aufruf der Roten Hilfe zur Prozessbeobachtung hat keine Relevanz, da sie ja tatsächlich wegen Sachbeschädigung angeklagt werde.
Dem Gericht ist auch bekannt, dass für solche Aktionen i.d.R. Handschuhe benutzt werden. Möglicherweise waren diese aber nicht steril, sodass auch Übertragung von DNA der Angeklagten denkbar sei.
Der Prozess endet noch vor der Mittagspause.
Inzwischen wurde bekannt, dass der für seinen Verfolgungseifer bekannte Staatsanwalt Berufung eingelegt hat. Schön wäre es, wenn sich auch bei der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht wieder so viele Menschen solidarisch zeigen würden!