von CopWatch Leipzig
Am 07.11.2020 folgten 40.000 Menschen aus dem sog. bürgerlichen und neurechten Spektrum dem Aufruf des rechts-esoterischen Vereins „querdenken“ nach Leipzig. Wir entdecken in der aktuellen öffentlichen Diskussion und Bewertung Auslassungen, Vernachlässigtes und Verzerrungen. Einige Reaktionen kommen uns gefährlich vor, da sie in unseren Augen rechte Ziele, Forderungen und Narrative befördern. Die Kundgebung und anschließende Demonstration war die größte rechte Veranstaltung in Leipzig seit der Wende. Auf dem Augustusplatz traf sich eine Mischung aus Kontrafaktiker*innen, Esoteriker*innen, Hools, Reichsbürger*innen und andere Nazis. Der rechten Kundgebung stand ein wesentlich kleinerer Gegenprotest entgegen, dem es zwar gelang, einen Teil des Rings zu blockieren, der die rechte Veranstaltung aber nicht nachhaltig stören konnte und sich stattdessen etlichen Bedrohungssituationen durch organisierte Nazis und Polizist*innen ausgesetzt sah.
Im links-liberalen Lager ist das Entsetzen mal wieder groß: „Wie konnte so etwas passieren?“
Schnell wurden Forderungen nach einem härteren Durchgreifen des Staates laut. Die Versammlung hätte früher aufgelöst, die Polizei härter dagegen vorgehen müssen. Für uns sind diese Forderungen jedoch keine Lösung, sondern Teil des Problems und sogar seine Vertiefung. Für uns stellen die Ereignisse vom 07.11. kein Versagen des Staates dar, der etwa nur mehr Polizei hätte schicken müssen. Vielmehr bestand aus unserer Sicht kein/nicht genügend staatliches Interesse daran, gegen die rechte Kundgebung vorzugehen.
I. Wo wir die Gründe dafür sehen
1. Die Bürgerlichen Parteien und die „Besorgten Bürger“
Den bürgerlichen Parteien ist durchaus bewusst, dass auf dieser Kundgebung die eigenen Wähler*innen Hand in Hand mit Nazis demonstrieren. So wurde auch wieder differenziert: auf der einen Seite die Nazis, die den (womöglich) rechtmäßigen Protest der auf der anderen Seite stehenden „normalen Bürger“ für sich vereinnahmen. Die Unterscheidung in „besorgte Bürger“ und Nazis ist für die (rechten) Bürgerlichen Parteien aber entscheidend. Nur dadurch lässt sich die Erzählung vom Hufeisen aufrecht erhalten, wonach die „Bürgerliche Mitte“ nur gemäßigt sein und mit Nazis per Definition nichts zu tun haben kann. Demnach seien es allein organisierte Nazis, die versuchen würden den bürgerlichen Protest zu vereinnahmen und nicht die ideologischen Überschneidungen, die tatsächlich beide Gruppen zusammenbringt. Auch die eigene Nähe zu rechten Ideologien lässt sich mit der Extremismustheorie gut verdunkeln. Lässt sich doch ein wirtschaftsschonender Umgang mit der Pandemie sehr gut mit den Forderungen der Demonstrant*innen zusammenbringen. Es ist also erklärbar, wie und warum Menschen sich rechten Autoritären zuwenden. Die Grundlage hierfür wird schon in der bürgerlichen Politik gelegt. Eine Politik, die Kämpfe um sozialen Status befeuert, in der sich nur die stärkere Person durchsetzen kann. In Krisenzeiten, in denen der soziale Status gefährdet ist oder scheint, sind es dann Rechte und Nazis, die an politische Grundtendenzen anschließende, autoritäre Antworten als Lösung anbieten. Im Hinblick auf aktuelle (öko-)konservative Kreise, wird eine persönliche und inhaltliche Nähe zum „querdenken“-Bündnis immer deutlicher. Das Verständnis für dessen Forderungen drückt sich schon in den widersprüchlichen Kommentaren sächsischer CDU-Politiker im Vorfeld des 07.11. aus.
2. Weg mit der Erzählung vom Versagen der Behörden
Auch und gerade Polizei und Justiz sind keine neutral agierenden Organe des Staates.
Der Mythos hält sich in der Bevölkerung, der Zweck der Polizei sei, die Bevölkerung zu schützen und Verbrechen aufzuklären bzw. zu verhindern. Eine Gesellschaft ohne Polizei scheint undenkbar, die Vorstellung wirkt unvollständig. Dahinter steht die Befürchtung, schutzlos jeder Art von Verbrechen ausgeliefert zu sein. Dies zu verhindern ist allerdings nicht die originäre Aufgabe der Polizei.
Abriss. Entstehungsgeschichte der deutschen Polizei
Tatsächlich gibt es die Exekutiv-Polizei in Deutschland, wie wir sie heute kennen, erst seit dem 19. Jahrhundert, genauer seit der Industrialisierung. Der Reichstag, bestehend aus gewählten Volksvertretern (*), hatte politisch neben dem Kaiser kein maßgebliches Mitspracherecht. Die Reichstagsmitglieder waren ranghohe Militärangehörige und wohlhabende Fabrikbesitzer (*), die ihren Reichtum im Zuge der industriellen Revolution der Ausbeutung der Arbeiter*innen verdankten. Wirtschaftlich gesehen bestand daher großes Interesse am Erhalt des Status Quo. Mit Beginn der Arbeiter*innenaufstände entstand die Notwendigkeit einer Institution, die die öffentliche Ruhe wieder herstellt und die Interessen der Bourgeoisie schützt. Dies war und ist, bei allen Veränderungen von Gesellschaften, bis heute die Kernaufgabe der Institution Polizei. Als „Freund und Helfer“ (*) der Bevölkerung hat es sie so nie gegeben. Sie verwirklicht diese Illusion auch nicht in einzelnen oder vielen Polizist*innen, deren Selbstbild oder Auftreten freundlich sein mag. Auch der gesellschaftlich mehrheitliche Konsens über die gute Polizei wird nichts an ihrem Grundcharakter ändern. Die Institutionen der Polizei waren und sind dazu da, staatliche und ökonomische Interessen gegen Teile der Bevölkerung durchzusetzen. Gegen wen auch sonst?
Das sogenannte „Versagen“
Die immer wieder aufgewärmte Erzählung vom bloßen “Versagen der Polizei” ist wie 1992 in Rostock Lichtenhagen oder 2018 in Chemnitz nicht haltbar. Lasst uns das nicht vergessen! Dieses Narrativ zu unterstützen, heißt auch, das rechte Ziel der Machtübernahme mit herbeizuerzählen. Die Polizei ist die Verkörperung des autoritären Staates.
Somit ist sie seit jeher auch Anlaufstelle für rechte Charaktere, die dort ihre autoritären Ansätze/Werte ausleben, entwickeln und ausstatten können. Dies zeigt sich an den zahlreichen rechten Strukturen innerhalb der Polizei, die jüngst öffentlich gemacht wurden. Ebenso an den Übergriffen auf migrantisch Gelesene, von Klassismus Betroffene oder linke Menschen durch Polizist*innen. Selbst die Gewerkschaft der Polizei (GdP, hält sich selbst für sozialdemokratisch) mahnt die Nähe zu vieler Polizist*innen zur AFD an. Ehemalige Polizist*innen sitzen für die AFD zu Hauf in deutschen Parlamenten. Und noch eine erwartbare Tendenz: immer mehr AFD-Politiker*innen leugnen die Pandemie und unterstützen die Anliegen um und von „querdenken“.
Es ist daher wenig überraschend, dass es auch in der Vergangenheit bei kontrafaktischen Demonstrationen im Zuge der Pandemie personelle Überschneidungen zwischen Polizei und Demonstrant*innen gab. Es ist deshalb auch nichts neues, dass sich Polizist*innen während der Kundgebung mit den Demonstrant*innen solidarisch zeigten. Sei es durch einen gehobenen Daumen aus dem Einsatzwagen heraus oder durch ein über Stunden passives Einsatzkonzept gegenüber 40.000 Menschen, die gegen Hygieneauflagen verstoßen. Auch der Umgang mit der Presse verdeutlicht dies. So wurden Journalist*innen durch die Polizei an ihrer Arbeit gehindert, die bloße Präsenz der Presse als Ursache für Übergriffe auf Journalist*innen als Grund angeführt. Warum sollte die Polizei also gegen Menschen vorgehen, die größtenteils die Polizei in ihrem autoritären Bestreben als Verbündete ansehen dürften? Die auch vonseiten vieler Polizist*innen eher als ehrbare Bürger*innen, denn als Bedrohung für den Rechtsstaat gesehen werden? Wir müssen nicht mehr diskutieren, ob das so ist, sondern können in Diskussionen davon ausgehen.
Auch kein Versagen möglich in Connewitz – 4 Wasserwerfer noch am selben Abend
Dass die Polizei durchgreifen kann, zeigte sie am gleichen Tag an anderer Stelle. So war es die linke Gegenkundgebung, die am frühen Abend von der Polizei umstellt wurde, während Nazis und Hools die kontrafaktische Menschenmasse anführte und ihr den Weg durch die Stadt bahnte. Auch 4 Wasserwerfer kamen, fernab des rechten Aufmarschs, in Connewitz zum Einsatz. Bei der Gegendemonstration am 09.11. filmte die Polizei geflissentlich und anlasslos, störte und provozierte die nicht im Ansatz eskalierende linke Veranstaltung, in die sie immer wieder mit kleinen Trupps eindrang.
Hier zeigt sich auch, warum wir Forderungen nach einem härteren Durchgreifen des Staates ablehnen. Jede staatliche Befugnis für gewaltvolles Handeln durch die Polizei fällt am Ende auf linke Gruppen zurück und erschwert den Protest gegen Nazis und rechte Umtriebe im Staat.
3. Der politische Rechtsstaat – ein Beispiel aus Bautzen
Der Mythos vom neutralen Rechtsstaat in Verkörperung von Gerichten lässt sich mit Blick auf die Demonstration und zeitnahe andere Veranstaltungen vorführen: Gedenkveranstaltungen mit hinreichenden Hygienekonzepten zum rechten Anschlag in Hanau oder zum Tag der Reichspogromnacht werden gerichtlich untersagt. Rechter Massenprotest darf stattfinden – in Zeiten konkreter Lebensgefahr Vieler und kollabierender Care- und Gesundheitskapazitäten. Betrachten wir uns die richterliche Entscheidung aus Bautzen, die Demo in der Leipziger Innenstadt stattfinden zu lassen, so springt die persönliche Befangenheit mindestens eines Richters ins Auge: Er ist Mitherausgeber einer juristischen Fachzeitschrift, die im jüngsten Heft Corona mit geläufigen Grippe-Erkrankungen gleichsetzt.
4. Medien und Minister
Corona und bürgerliches Desinteresse, fehlende liberale Gegen-Mobilisierung, rechte Strukturen und Sympathien in Polizei und Justiz bescheren Leipzig Jagd von Nazigruppen auf Linke und migrantifizierte Menschen am Abend des 07. November. Bundesmedienanstalten wie das ZDF berichten am gleichen Abend kaum oder stark verzerrt von den Ereignissen in Leipzig. Und dann verheddert sich Innenminister Wöller (#fahrradgate) in der eigenen Rolle im rechten Geflecht: Erst relativiert die sächsische CDU, allen voran Wöller, die Teilnahme an der Demonstration, dann deren Eskalation. Ein paar Tage später macht er selbst die Stadt Leipzig für eben diese Eskalation verantwortlich. Hier zeigt sich die Biegsamkeit konservativer Machtauslegung zu Gunsten ihrer ambivalenten Interessen, Selbsterhaltung und -darstellung. Eine solche Eigenschaft also, die Wählende in den letzten Jahrzehnten misstrauischer und verdrossener gegenüber höherer Politik werden ließ.
II. Was wir uns und euch wünschen
“Die Annahme, dass die Polizei eine soziale Unvermeidbarkeit darstellt, widerspricht den Regeln der Logik: Wenn wir akzeptieren, dass die Polizei an einem bestimmten Punkt der Geschichte entstanden ist, um auf spezifische soziale Bedingungen zu antworten, dann folgt daraus, dass diese Institution durch sozialen Wandel auch wieder abgeschafft werden könnte. (…) Dies ist also mein wichtigster Vorschlag: Wir müssen die Möglichkeit einer Welt ohne Polizei anerkennen.”
— Kristian Williams, Die Polizei überflüssig machen, Loick 2018
Recht eindeutig lässt sich am ganzen Geschehen herleiten, dass auf den Staat im Kampf gegen Nazis und ihre (staatlichen) Verbündeten kein Verlass ist. Ein überfälliger Abschied vom ansozialisierten Rest-Vertrauen in Polizei und bürgerlichen Rechtsstaat ist an der Reihe. Er kann von uns stärker markiert werden und in Konsequenzen münden. Wir wollen anregen und dazu beitragen, linkes Leben und Selbstorganisierung selbst zunächst stärker wertzuschätzen, es überlegt und authentisch nach außen zu öffnen. Sich beruhigter und nuancierter zu kritisieren und in möglichst viele Richtungen zu solidarisieren, um Konflikt- und Fehlerkultur zu entwickeln, insgesamt nachhaltiger und breiter zu wirken. Wir danken den Organisator*innen und Teilnehmenden des Gegenprotestes riesig für die Bewältigung dieses beschissenen Tages!
Der politische Umgang mit der Pandemie macht die Privilegierung von Herrschafts- und Kapitalinteressen gegenüber sich verschärfenden ökologischen und sozialen Problemen offensichtlicher als es sonst schon der Fall ist. Lasst uns diese Ungerechtigkeit fokussieren, anschlussfähige Kritiken und eigenständige Forderungen liefern! Es wird uns darum gehen, zum gegenwärtig zugleich kritischer als auch regressiver geführten Polizeidiskurs der letzten Monate angemessen beizutragen. Wir und ihr sind gefragt, unsere Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft mit alternativen Konzepten zum gegenwärtigen Polizei- und Rechtssystem auszustatten. Uns fällt das nicht leicht, doch wir haben Bock, sie mehr auf den Weg zu bringen! Hier einige Inspirationen, sie kommen aus Minneapolis:
“Die moderne Polizei ist in gewissem Sinne ein Zeichen dafür, dass die Gemeinschaftsnormen und -kontrollen nicht in der Lage sind, die Beziehungen innerhalb oder zwischen Gemeinschaften zu regeln oder, dass die Gemeinschaften sich gegen die Gesellschaft gestellt haben. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass echte Gemeinschaften in modernen Städten wahrscheinlich sehr selten sind und sie, wenn sie existieren, wenig Interesse daran haben, irgendeine Art von Beziehung mit der Polizei zu pflegen.”
— Carl Klockars, in K. Williams, Die Polizei überflüssig machen, Loick 2018
Wunderbares Foto von der antifaschistischen Blockade von Sarah Ulrich, taz
Vielen Dank an CopWatch Leipzig für den Text