Um 9:30 Uhr wurde der nächste Prozess im Kontext der Ereignisse am Connewitzer Kreuz an Silvester 2019/20 am Amtsgericht Leipzig eröffnet. Als solidarische Beobachter*innen mussten wir zunächst Einlasskontrollen über uns ergehen lassen (Personalien, Taschenkontrollen, Abtasten, Hanyds abgeben). Sie sollten, wie auch die sieben Beamten vor der Tür, den friedlichen Verlauf der Verhandlung sicher stellen. Später begründete der Richter die Maßnahmen mit der Veröffentlichung des Termins auf Internetplattformen, deren Nutzer*innen wohl nicht alle nur zum ruhigen Zusehen kämen.
Nach dem Eintreffen von Richter Hüner und zwei Schöffen verlas Staatsanwalt König (StA) die Anklage. Dem Angeklagten wird vorgeworfen dem Beamten Ronny Golze, der gerade eine Festnahme durchführen wollte, den Helm vom Kopf gerissen zu haben. Daraufhin habe er dem Hundertschafts-Führer zwei Mal ins Gesicht geschlagen und dann den Helm fortgeworfen. Die eigentliche Zielperson der Polizei konnte sich laut Anklage dadurch dem polizeilichen Zugriff entziehen. Daraus ergebe sich Widerstand und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Gefangenenbefreiung sowie Widerstand und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzliche Körperverletzung.
Im nachfolgenden organisatorischen Teil der Verhandlung stellte der verteidigende Rechtsanwalt (RA) zunächst zwei Anträge:
1. Die Aufhebung des ausgesetzten Haftbefehls, da es keine Gründe für diesen gibt. Die Entscheidung verlagerte Richter nach den Prozesstag.
2. Aussetzung des Verfahrens wegen der Covid-Situation. Der Angeklagte gehört zu einer Risiko-Gruppe und das Verfahren könnte ohne Weiteres auf das Frühjahr verschoben werden. Mit den Worten: „Ihre Gesundheit ist mir egal“, verwies der Richter auf Hygienemaßnahmen, ging aber nicht auf die Argumentation des RA ein. Nach einer Pause war die Entscheidung den Prozess fortzuführen daher nicht überraschend.
Anschließen verlas der RA des Angeklagten einer Verteidigererklärung: Darin hob er zunächst den Kontext der Ereignisse hervor, nämlich den sehr konfrontativen Polizeieinsatz an diesem Abend sowie die anschließenden Lügen der Polizei. Nachdem die Polizei noch in der Silvesternacht mit ihrer Darstellung der Ereignisse voraus geprescht war stellte ein kritisches Medienecho zurecht die polizeiliche Darstellung der Ereignisse in Frage. Überdies wurde gezeigt, dass es weder wie von der Polizei behauptet ein abgerissenes Ohr mit Not-Operation gab, noch von den Feiernden ein Angriff mit einem brennenden Einkaufswagen ausging. Es sei zudem erstaunlich, dass der neue Polizeipräsident, anders als in den letzten Jahren, nicht auf Deeskalation zu setzen scheint. Gerade im Stadtteil Connewitz, der ohnehin unter einem zunehmendem Belagerungszustand leide.
Die konkreten Tatvorwürfe seien darüber hinaus sehr fraglich. Der Angeklagte soll dem Polizisten zwischen Helm abreisen und den Schlägen ins Gesicht einen flotten Spruch im Stil von Bud Spencer und Terence Hill gesagt haben: „Den brauchst du nicht mehr, es wird sowieso gleich dunkel“. Dieses Zitat wurde auch vom StA in der Anklage vorgelesen. Später bringt der RA noch an, dass sich auf dem Helm weder Fingerabdrücke noch DNA-Spuren von dem Angeklagten befanden. Dieses „Detail“ kommt in der Anklageschrift nicht vor. Genauso wenig, dass der Angeklagte während der Festnahme das Bewusstsein verlor und im Gesichts- und Kopfbereich stark blutete. Ein Rettungswagen musste ihn ins Krankenhaus bringen. Die Polizeibeamten dagegen seien unversehrt geblieben.
Nach der Eröffnung der Beweisaufnahme stellte der RA gegen Widerstand des Richters den Antrag das Verfahren auf Grund von Verfahrenshindernissen einzustellen. Als Begründung geht er auf die
höchst umstrittene Rolle von Polizist*innen als Zeug*innen aus. Zumal es in diesem Verfahren neben fünf Beamten keine weiteren Zeug*innen gibt. Sie hätten, nicht zuletzt wegen der Verletzungen des Angeklagten, ein Eigeninteresse an einer Verurteilung. Sie haben umfangreiche Möglichkeiten sich abzusprechen und vorzubereiten, da sie vorab die Akten lesen konnten. Der Antrag blieb, wie auch der nachfolgende ohne Entscheidung. Allerdings gab sich der Richter keine Mühe seine ablehnende Haltung gegen die Argumente des RA zu verbergen. So auch bei dem folgenden Antrag für umfassende Akteneinsicht: In der bisherigen Akte fänden sich an zentralen Stellen Querverweise zu weiteren Dokumenten, welche zum Zwecke der Verteidigung gesichtet werden müssten, so der RA. Weiterhin fehle ein Großteil des Videomaterials sowie Einsatzbefehl, Einsatz- und Funkprotokolle des Abends. Daraus könnte zum einen ersichtlich werden wie es zu der Eskalation seitens der Polizei kam. Auf der anderen Seite ließen sich dadurch mehr Zeugen für die Gewalthandlungen gegen den Angeklagten während der Festnahme finden. Richter und StA betonten, dass die Akte umfänglich vorliegen würden – zumindest alle relevanten Teile. Diese absurde Äußerung wiederholte der StA auch in Bezug auf die Videoschnippsel, welche als Beweismaterial gegen den Angeklagten angeführt werden. Es sei nichts relevantes zu sehen auf den anderen Aufnahmen. Selbst angesehen habe der StA die Aufnahmen aber auch nicht. Wie um die Bedenken des RA zu untermauern führte der StA an, dass ein interner Prüfvorgang gegen das Vorgehen der involviertem Beamten bereits abgeschlossen sei.
Abschließend kündigte der Richter ein Selbstlese-Verfahren an und verteilte dazu eine Aktenmappe. Der RA forderte, dass mindestens der DNA-Untersuchungsbericht – welcher die Unschuld des Angeklagten nahelegen würde – nicht in der Selbstlesung untergehen und deshalb im Prozess verlesen werden sollte.
Nach etwa zweieinhalb Stunden endete damit der erste Prozesstag. Die Fortführung ist am 11. November um 9:30 im Amtsgericht Leipzig mit den Zeugenvernehmungen von Polizisten. Um das Gericht betreten zu dürfen solltet ihr folgende Informationen als Ziel eures Besuches angeben: Saal (201) und Aktenzeichen (207 Ls 608 Js 20/20).