In Grenzen frei – Die Residenzpflicht als Bestandteil rassistischer Sondergesetzgebung in Deutschland

Im September startete in Würzburg auf zwei Routen ein Protestmarsch von an die hundert geflüchteten Menschen. Zu Fuß und per Bus wollten diese nach Berlin gelangen, um dort ihrem Protest gegen die rassistische deutsche Asyl- und Flüchtlingspolitik Ausdruck zu verleihen. Ohne größere Störungen durch staatliche Instanzen oder Neonazis kamen beide Gruppen Anfang Oktober in Berlin an, wo am 13.10. insgesamt 5000 Menschen für einen Wandel der Flüchtlingspolitik demonstrierten.

Bundesweit wird derzeit verstärkt über die deutsche Asylgesetzgebung und den damit einhergehenden Rassismus diskutiert. Dazu beigetragen hat z.B. der Rückblick auf das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992. Dieses lieferte damals den Anlass für die faktische Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl, die drastische Senkung der Flüchtlingszahlen und der Asyl-Bewilligungsquote und Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz. Aber auch gegenwärtige Anschläge und Bürgermobs gegen Unterkünfte von Asylsuchenden lenken die Aufmerksamkeit auf die Lebenssituation der in Deutschland lebenden Geflüchteten.

Gleichzeitig sind mit dem Hungerstreik in Würzburg, dem Boykott von Gutscheinen in drei Heimen im Landkreis Leipzig im Juli und dem Protestmarsch wichtige Selbst­ermäch­tigungs-Bewegungen von Flüchtlingen in Gang.

Im Folgenden soll die Spezifik der Residenzpflicht beleuchtet werden, deren Abschaffung ein Ziel des Refugee-Protest-Marsches ist.

Teil eines rassistischen Ausgrenzungs-Systems

„Residenzpflicht“ meint die räumliche Beschränkung des Aufenthaltes auf einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt (1). AsylbewerberInnen, denen für die Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet wurde, ist es nach den §§ 56 bis 58, 85 und 86 des Asylverfahrensgesetzes unter Androhung einer Geld- oder Freiheitsstrafe untersagt, ohne schriftliche Erlaubnis den Wirkungskreis der zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen.

Für Geduldete, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind, für die aber eine „vorübergehende Aussetzung der Abschiebung“ veranlasst wurde, gelten die §§ 12 und 61 des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge der Aufenthaltsbereich auf das Bundesland begrenzt ist. Die Ausländerbehörden können den Bewegungsraum aber durch Auflagen beliebig weiter einschränken, wie es in zahlreichen Bundesländern bis vor kurzem praktiziert wurde und teilweise noch praktiziert wird.

Die Residenzpflicht ist bereits seit 1982 Teil der Sondergesetzgebung für Flüchtlinge. Sie komplettiert die zahlreichen anderen Ausgrenzungsmechanismen, wie Zwangsunterbringung in Lagern, Arbeitsverbot oder die minimalen Mittel zur Existenzsicherung, welche oft nur in Form von Gutscheinen oder Paketen gewährt werden. Deutschland ist europaweit das einzige Land, das die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen in dieser Weise einschränkt, und arbeitete erfolgreich dafür, dass diese Praxis, immerhin „nur“ als Kann-Bestimmung, in die EU-Aufnahme-Richtlinie aufgenommen wurde. Nur Österreich und Slowenien haben bisher davon, allerdings in abgeschwächter Form, Gebrauch gemacht.

Willkürliche Praxis

Um den Landkreis oder die Stadt, dem sie zwangsweise zugewiesen wurden, temporär verlassen zu können, müssen die Betroffen eine so genannte Verlassenserlaubnis (Urlaubsschein) beantragen. Es gibt einen Rechtsanspruch, wenn „ein dringendes öffentliches Interesse besteht“, „ein zwingender Grund das Verlassen erfordert“ oder wenn das Versagen der Erlaubnis eine „unbillige Härte“ bedeuten würde. In einigen Bundesländern werden diese allgemeinen Ausführungsbestimmungen des Bundes durch Verwaltungsvorschriften präzisiert. Für Sachsen ist wie in den meisten Ländern dazu nichts bekannt. Entscheidungen, die auf den formelhaften Kriterien beruhen, sind daher vollkommen intrans­parent und willkürlich.

Der Antrag selbst muss durch die Flüchtlinge meist langfristig im Voraus eingereicht werden. Allein dies ist ein entwürdigender Akt, den viele der Betroffenen gar nicht erst in Kauf nehmen wollen. Kommt es zur Ablehnung des Antrages, ist dies durch die AntragsstellerInnen schwer zu hinterfragen. Eine Kontrolle der Entscheidungsfindung ist schon durch die gängige Praxis, Ablehnungen mündlich auszusprechen, erschwert. Die Kampagne residenzpflicht.info empfiehlt deswegen, Anträge auf Verlassenserlaubnis grundsätzlich schriftlich zu stellen (2), um das Handeln der Behörden kontrollierbar zu machen und ggf. juristisch gegen Ablehnungen vorgehen zu können. Diese formalisierte Antragsstellung kann durch­aus auch dazu führen, dass Anträge eher bewilligt werden.

Bei mehrmaligem Verstoß gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung drohen bis zu einem Jahr Gefängnisstrafe, Geldstrafen bis zu 2.500 Euro, im äußersten Fall sogar die Ausweisung.

Im negativen Sinne bemerkenswert ist die Machtfülle, die die Ausländerbehörden auch in der Frage der Sanktionierung des Verstoßes haben. Die Polizei leitet Anzeigen gegen kontrollierte Asylsuchende, die sich unerlaubt außerhalb des für sie definierten Gebietes bewegen, in der Regel an die Ausländerbehörde weiter. Diese entscheidet, ob der Verstoß als Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu werten ist, und stellt entweder Strafanzeige oder veranlasst einen Bußgeldbescheid. Es kommt vor, dass sie auch die Höhe des Bußgeldes festlegt. Wird der Residenzpflichtbruch in Form eines Strafverfahrens geahndet und vom zuständigen Amtsgericht verurteilt, wird ebenfalls die Ausländerbehörde informiert. Solche Verurteilungen verursachen dann nicht nur das Ansteigen der Krimi­nalitätsstatistik, die RassistInnen jeglicher Couleur als Anlass dienen, um gegen die „überbordende Ausländerkrimi­nalität“ zu hetzen. Sie fließen auch in aufenthaltsrechtliche Entscheidungen ein. Ebenso werden Verstöße oft als Argument für Ablehnungen von Anträgen auf eine Ver­lassenserlaubnis herangezogen, die im Sinne der Behörden dann „disziplinierend“ wirken sollen.

Protest und minimale Veränderungen

Infolge von starken und breiten Protesten gegen die Residenzpflicht Anfang der 2000er Jahre und einer Reihe von politisch motivierten Weigerungen, Bußgelder zu zahlen, wurde eines der daraus folgenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Men­schen­­rechte (EUGMR) in Straßburg verhandelt. Die Entscheidung al­lerdings bedeutet(e) einen Rückschlag für die Kriti­ker­Innen, denn der EUGMR befand im November 2007, dass die räum­lichen Aufenthaltsbeschränkungen aus seiner Sicht mit der Europäischen Men­schen­rechts­­kon­ven­tion ver­­einbar sind.

Seit 2010 gibt es aller­dings Bewegung. Es begann mit dem Beschluss der rot-roten Regierung in Bran­denburg, den Aufenthaltsbereich für Flücht­linge auf das gesamte Bundesland zu erweitern. Zudem vereinbarte Bran­den­burg mit dem Nach­barland Berlin, dass Flüchtlinge im jeweils anderen Bundesland ei­ne Daueraufent­halts­er­laubnis bekommen. Diese Lockerung der Residenzpflicht hat allerdings Tücken. Geduldete, die „ihre Rückführung vorsätzlich verzögern, indem sie ihre Identität verschleiern oder bei der Passbeschaffung nicht mitwirken“, bleiben von dieser Regelung ausgeschlossen. Dabei liegt der Grund für fehlende Ausweispapiere oft bei den Herkunftsländern. Viele Flüchtlinge verschleiern auch völlig zurecht ihre Identität, aus Angst vor Abschiebung in prekäre und lebensgefährliche Verhältnisse. Die Flüchtlingsräte Berlin und Bran­den­burg analysieren vor diesem Hintergrund, dass die Residenzpflicht einen Wandel erfahren hat, vom pauschalen Schikane- zum Sanktionsinstrument gegen die, die in ihrem Asylverfahren angeblich „nicht mitwirken“.

Mittlerweile haben sieben Bundesländer (3) den Aufenthaltsbereich für Flüchtlinge auf das gesamte Land ausgeweitet. In Sachsen und Bayern dürfen sich Flüchtlinge mittlerweile im Regierungsbezirk und in Thüringen in den angrenzenden Landkreisen bewegen.

In Sachsen wurde zudem im Januar 2011 der Be­wegungsraum für Geduldete auf den gesamten Landkreis erweitert. Ausgeschlossen bleiben allerdings Menschen, die vorbestraft sind oder den besagten „Mit­wir­kungs­pflichten“ nicht nachkommen.

Die Länder behalten sich mit halbherzigen Regelungen also weiterhin Zugriffsmöglichkeiten auf die Bewegungsfreiheit der betroffenen Menschen vor. Für die tatsächliche Abschaffung der Residenzpflicht wäre die Veränderung des Aufenthaltsgesetzes auf Bundesebene nötig. Dies wäre ein lohnendes Ziel emanzipatorischer Politik. Eine Abschaffung der Resi­denz­pflicht und der anderen rassistischen Son­derregelungen würde nicht nur die Hand­lungs­mög­lichkeiten für Flüchtlinge beträchtlich erweitern. Sie würde damit auch die Ausgangsposition weiterer sozialer Kämpfe und die Perspektiven in Richtung einer wirklich grenzenlosen Gesellschaft deutlich verbessern.

Rote Hilfe Leipzig, 13.10.2012

(1) Im Kontext der Asylpolitik kann Residenzpflicht neben der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung auch die Verpflichtung bedeuten, in Sammellagern zu wohnen. Das heißt, dass nicht nur der Ort diktiert wird, sondern auch die Art zu leben. Im Falle der dezentralen Unterbringung in einer Wohnung muss zudem die Wohnortauflage eingehalten werden.

(2) Siehe Formular: www.residenzpflicht.info/rechtshilfe/verlassenserlaubnis/

(3) Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Meck­lenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg

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